Unser Gehirn ist kein Computer. Unser Fleisch rechnet und speichert anders als ein PC. Erlebnisse, Geschichten und dadurch ausgelöste Emotionen sind die Währung unseres Gehirns. Und weil Geschichten subjektiv unterschiedlich verstanden, gedeutet und bewertet werden, sind sie gleichzeitig perfektes One-to-One-Marketing.

Wenn unser Gehirn mit nackten Fakten konfrontiert wird, reagieren das sogenannte Broca-Areal, das nach dem französischen Chirurgen Paul Broca benannte motorische Sprachzentrum, das für die syntaktische Sprachverarbeitung zuständig ist sowie das Wernicke-Areal, das sensorische Sprachzentrum, das im Zusammenhang mit der semantischen Verarbeitung von Sprache (Sprachverständnis) von zentraler Bedeutung ist. Beide zusammen bilden die Hauptkomponenten des menschlichen Sprachzentrums.

Wenn wir hingegen dieselben Fakten – verpackt in einer ergreifenden Geschichte – lesen, erzählt bekommen, als Bildergeschichte oder als Film sehen und hören, geschieht ungleich mehr in unserem Hirn.

Natürlich werden auch bei einer Geschichte die beiden genannten Areale des Sprachzentrums aktiv. Darüber hinaus entstehen jedoch bei der Verarbeitung einer Geschichte Repräsentationen im Gehirn, die mit jenen identisch sind, die gebildet würden, wenn wir selbst tatsächlich Teil einer real erlebten Geschichte wären.

Das machen sich zum Beispiel Leistungssportler zunutze. Sie führen mentale Trainings durch, indem sie sich komplexe Bewegungsabläufe bis ins Detail vorstellen und immer wieder rekapitulieren, um sie durch Training der beteiligten Neuronen und Hirnareale quasi zu „bahnen“ und hinterher auch in der Realität sicher und perfekt durchführen zu können.

Geschichten aktivieren den Motorkortex, der willkürliche Bewegungen steuert, das Verarbeitungszentrum für visuelle Eindrücke, die Geruchsverarbeitung, aber vor allem die Zentren für die Entstehung von Emotionen und die Emotionskontrolle. Ja, sogar das Gedächtnis und die eigenen Erinnerungen werden angezapft, wenn wir uns beispielsweise mit den Protagonisten der Geschichte identifizieren oder einzelne Figuren ablehnen.

Geschichten wecken Emotionen.

Außerdem werden bei der Rezeption von Geschichten so genannte Spiegelneuronen aktiviert, die immer dann beteiligt sind, wenn Menschen einander verstehen, etwas bei anderen nachvollziehen, etwas nachahmen, miterleben und vor allem mitfühlen. Geschichten wecken unweigerlich Emotionen. Die Ausschüttung körpereigener Botenstoffe wie Dopamin („Glückshormon“), Cortisol („Stresshormon“) und Oxytocin („Kuschelhormon“) führt sogar zu körperlichen Reaktionen: Geschichten bringen uns zum Lachen oder Weinen, erhöhen unseren Puls oder treiben uns den Schweiß auf die Stirn.

Ebenfalls von zentraler Bedeutung im Zusammenhang mit unserer Präferenz gegenüber Geschichten ist die Funktionsweise unseres episodischen Langzeitgedächtnisses. Das kann sich eindimensionale Fakten schlecht merken, Geschichten mit vielen Verknüpfungspunkten zu bereits abgespeicherten Gedächtnisinhalten dafür umso besser. Geschichten sind so etwas wie die Währung unseres episodischen Langzeitgedächtnisses. Aber auch deren mobile Manövriermasse: Wir arbeiten an unserer Erinnerung wie Schriftsteller an einem Roman. Deswegen sind Menschen so schlechte Zeugen.

Geschichten werden individuell verstanden.

Ein Aspekt, der bislang noch kaum beachtet wird, ist die individuelle Zielgruppenansprache, die durch jede Geschichte stattfindet. Geschichten sind bestes One-to-One-Marketing. Der Neurobiologe Gerald Hüther sagte dazu in einem Interview: „…Mit dem Storytelling ist man da relativ gut beraten, weil das Erzählen einer Geschichte immer zum Subjekt führt. Es können zwar 100 Leute dieselbe Geschichte hören und trotzdem macht sich jeder daraus seine eigene Geschichte…“

Dieser Prozess ist auch eng mit dem Lernen verknüpft. Geschichten werden vom Gehirn als reale, individuelle Erlebnisse bewertet, also direkt mit dem Subjekt verknüpft. Sie werden daher mit derselben Relevanz abgespeichert wie ganz reale Erfahrungen. Zuständig dafür ist die so genannte neuronale Koppelung, ein Prozess, der reale Erlebnisse nicht nur langlebiger als dröge Fakten abspeichert, sondern dem Individuum auch danach als Lerngrundlage zur Verfügung stellt.

Aus meiner Sicht lauten die wichtigsten Botschaften: Unser Gehirn ist auf Geschichten geeicht. Und: Mit Geschichten kann man nicht „nicht emotional“ umgehen. Kein Mensch, auch kein vermeintlich noch so rational tickender Entscheider oder Einkäufer! Gerald Hüther sieht hier auch den deutlichsten Unterschied von Storytelling gegenüber klassischer Werbung: „… Das (=Storytelling) ist etwas anderes, als wenn 100 Leute dieselbe Reklame sehen, in der eine Frau auf der Kühlerhaube eines bunten Autos sitzt. Dabei haben alle mehr oder weniger dieselben Bilder im Kopf…“

Blut geleckt in Sachen Storytelling? Hier gibt’s mehr Lesestoff.

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